Lieber Zeitgeist, ich habe ein zwiespältiges Verhältnis zu dir; dir gegenüber bin ich hin- und
hergerissen. Manchmal möchte ich sagen: Böser Zeitgeist! Das Böse an dir beginnt für mich schon mit dem Industriezeitalter. Es geht um die Macht der Zahlen, die ich damit verbinde. Um das Schnelle. Das Immer-Mehr. Die Wirtschaft soll ständig wachsen. Kann das überhaupt gehen? Ist nicht irgendwann einmal Ende der Fahnenstange? Kann man sich nicht einfach mal zurücklehnen und versuchen, den erreichten Status Quo zu halten? Stattdessen sollen Umsatz und Aktien beständig steigen, steigen, steigen. Wohin? Wofür? Für wen? Für das Individuum?
Ja, einerseits ist es wunderschön, dass du, lieber Zeitgeist, die Bedürfnisse des Individuums würdigst – und deren Vielfalt. Andererseits, böser Zeitgeist, ist der einzelne Mensch bei dir eine Zahl, austauschbar, da – um effektiv – nein, besser noch: effizient zu sein. Er soll aus möglichst wenig Aufwand möglichst viel Ergebnis ´rausholen. Und auch da ist kein Ende abzusehen. Wann ist genug? Die Wirtschaft überprüft ständig, wo sich noch Zeit einsparen
lässt. Du, böser Zeitgeist, bist wie die grauen Herren bei „Momo“. Der Autor Michael Ende hat dich wunderbar erfasst! Ertappt! Und weil sich das so schlecht anfühlt, lediglich als rasende Zahl unterwegs zu sein, die austauschbar ist, möchte ich meinen, du bist schlecht, lieber Zeitgeist!
Lieber Zeitgeist, wir sind aufgeklärt. Wir stützen uns auf die Maximen der französischen Revolution: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Freiheit, sie wird groß geschrieben. Sogar der deutsche Bundespräsident hat sie sich groß auf seine Fahnen geschrieben. Freiheit. Ich kann tief durchatmen. Viele haben die Möglichkeit, sie selbst zu sein, ihre Einzigartigkeit zu leben und ihre Nische zu finden. Demokratie und Menschenrechte – nicht nur das Recht der Mehrheit, sondern auch der Schutz der Minderheiten.
Einst waren es Sklaven und Frondienst leistende Bauern, schließlich andere Rassen, das Proletariat und zum Schluss die Frauen, die erst unterdrückt wurden und sich dann befreiten. Zumindest in der westlichen Welt. Wie das oft beliehene Modell einer Zwiebel, die sich häutet. Und ich bin erschrocken, wenn ich von heutiger Sklaverei erfahre. Ich hätte gemeint, zumindest diese Zwiebelhaut ist für immer entfernt und gegessen. Der Umgang des IS mit jesidischen Frauen, Kinderarbeit und anderer Menschenhandel lehren mich etwas anderes. Ich habe die naive Vorstellung, irgendwann sei die Zwiebel geschält, aber unsichtbar scheinen ihre ursprünglichen Strukturen fortzubestehen, da Macht fortbesteht und alle Dynamiken, die mit ihr verbunden sind.
Ich atme tief durch und bin froh, zum Beispiel nicht in den 50er Jahren zu leben, als eine Frau ihren Ehegatten um Geld oder sein Einverständnis in ihre berufliche Tätigkeit bitten musste. Lieber Zeitgeist, du brichst Machtgefüge auf. Du schaffst die Sippenhaft ab. Auch der Stammbaum in seiner bisherigen Form wäre wohl überholt, sobald wir erkannt haben, dass Wasser genauso dick wie Blut sein kann. Durch dich kam die Emanzipation der Frau ins
Rollen. Im Zuge dessen bringst du auch das bisherige Verständnis von Ehe mächtig ins Wanken, … „und das ist auch gut so“!
Ist das gut so? Böser Zeitgeist, wo sind die Schutzräume für Menschen und Gemeinschaften geblieben? Schwindet durch dich die Achtung vor dem Leben? Individualisierung bringt Vereinzelung, und Vereinzelung bringt Einsamkeit. Was verbindet uns Menschen noch?
Nicht mal auf Knigge kann ich die anderen noch festnageln, wo es doch mit der Bibel schon lange nicht mehr geht. Mir fehlen Anstand und Höflichkeit in unserer Gesellschaft. Alle drängeln sich in Zug, Bus und Bahn. Kaum einer gibt einem anderen Vortritt. Gut, aufstehen tun wir schon noch für die Alten, Kranken, Schwangeren. Wir checken unsere Handys und haben kaum noch einen Blick für den anderen. Wir optimieren uns, trimmen uns auf Schönheit und Leistungsfähigkeit und streben das gesunde Leben an. Überprüfen dies bereits im Entstehen und stoßen es notfalls ab. Wir maßen uns an, uns einfach das Beste aus den Genen und den Ideologien herauspicken zu können, sind Marionetten der Werbung, überfüllt von Konsum und entleert von Sinn. Ich habe Angst, böser Zeitgeist, dass du manipulierte Narzissten hervorbringst, denen jeglicher Tiefgang fehlt.
Böser Zeitgeist, die Menschen haben bei dir freien Zugang zu jeglicher Art von Sexfilmen und könnten diese eindimensionale Darstellung mit Liebe verwechseln. Lieber Zeitgeist, die Menschen hinterfragen durch dich althergebrachte Ernährungsgewohnheiten und zeigen damit auch ihre Achtung vor der Schöpfung.
Böser Zeitgeist, unsere Fortbewegungsmittel verseuchen diese Schöpfung, aber…
Lieber Zeitgeist, dieselben bringen uns einander näher wie nie zuvor.
Lieber Zeitgeist, wir haben durch das Internet Zugang zu sämtlichen Wissensquellen und lassen uns nicht mehr so viel vormachen wie früher vielleicht – sondern können überprüfen und selber denken. Aber…
Böser Zeitgeist, dadurch werden wir frech und verlieren Respekt vor Autoritäten. Außerdem sind wir doch, zugegebenermaßen, viel zu faul zum Prüfen und lassen uns stattdessen lieber Halbwissen, Gerüchte oder Illusionen vorkauen, vorgaukeln und verkaufen. Wie denn nun?
Bist du böse oder lieb?
Zeitgeist, deine Freiheit ist gut. Sie sollte das Verbindende unter Menschen begünstigen und nicht das Trennende. Doch auch heute noch gibt es in dir Machtgefüge, eine Trennung zwischen Starken und Schwachen. Du stärkst das Laute, Schnelle und Kurzfristige, und du vernachlässigst das Leise, Langsame und Langfristige. Du stärkst den schnellen Genuss, das Optimum, das Geld und den Wissenserwerb; Du schwächst den Müßiggang, die Besinnung
und die Herzensbildung. Ich glaube, du brauchst eine Korrektur an den Stellen, wo wir Menschen uns voneinander und von uns selbst entfernen, ansonsten finde ich dich ganz okay.
Die nächste Haut der Zwiebel – weiter gibt es Schwache und Starke. Weiterschälen – die Schwachen stärken und die Starken in die Verantwortung nehmen.
Zeitgeist, du bist wie du bist. Du kommst nicht von außen und brichst nicht über uns herein; du bist immer ein Teil von uns selbst. Ich muss dich nicht vergöttern, nicht verteufeln. Du spiegelst – wie eh und je – das Menschliche wieder. Manch einer frönt dir in unkritischer Weise. Manch anderer empfindet sich dir gegenüber als Opfer. Der oder die eine mag bequem sein, der oder die andere mag sich durch seinen Kampf in einer besonderen Mission wähnen. Aber ich muss auch den Menschen weder vergöttern noch verteufeln. Ich komme weiter, wenn ich versuche, ihn zu verstehen. Dich, Zeitgeist, zu verstehen; dazu verhelfe mir Gott.
Claudia Appel
Kommentar schreiben