Gedanken zum Monatsspruch

Morgens halb Zehn in Deutschland: Dichtes Gedrängel in der Straßenbahn. Eine Schulklasse auf Exkursion. An der Haltestelle steigt eine Frau ein. Graue Schuhe, grauer Mantel, graues Haar. Sie blickt sich um: Alle Plätze besetzt. Unsicher schaut sie die Jugendlichen an. Doch die sind mit sich beschäftigt. Sie sagt nichts. Sie bleibt stehen, nahe an der Tür. „Hoffentlich bremst die Bahn nicht ruckartig“, denkt sie.

 

Morgens halb Zehn in Deutschland: Dichtes Gedrängel im Regionalexpress. Senioren in Vorfreude auf ihre Nordic-Walking-Tour durch die Sächsische Schweiz. Am Bahnhof steigt eine junge Frau mit Kinderwagen ein, ein weiteres Kind an der Hand, die Reisetasche über der Schulter. „Eine helfende Hand wäre jetzt gut“, denkt sie.

 

„Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren und sollst dich fürchten vor deinem Gott; ich bin der Herr.“ (Lev 19,32)

 

Manchmal ist die Bibel wunderbar konkret. Und doch reicht der bloße Wortlaut nicht aus. Das wäre nur die halbe Wahrheit. Am Alter liegt es nicht, ob jemand sich über Hilfe freut. Wie also die unausgesprochene Bitte hören?

 

Gott fürchten, empfiehlt die Bibel. Gott fürchten? Gott, der Despot, der mir auf die Finger schaut und Strichliste führt? Nein! Gott fürchten heißt Gott im Nächsten zu sehen.

 

Um Gott im Nächsten zu sehen, Gott im Gegenüber zu entdecken, muss man aber hinschauen, hinhören, sensibel sein für das eigene Umfeld. Gott fürchten – das ist eine Form des Bewusstseins: Das Gegenüber bewusst wahrnehmen und ernstnehmen. Dessen Not erkennen und helfen.

 

Morgens halb Zehn in Deutschland: Dichtes Gedrängel an der Supermarktkasse. „Sie haben doch nur die drei Sachen, gehen Sie vor“, sagt der schmächtige Mann mit schütterem Haar zu mir: „Ach wie schön“, denke ich und lächle ihn an: „Danke.“ – „Ach tut das gut, Freude zu schenken,“ denkt er, „ein guter Start in den Tag.“

 

Mandy Rabe

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Kommentare: 1
  • #1

    Christian Schmill (Samstag, 18 März 2017 16:44)

    Die Verbindung zwischen den Generationen ist das unsichtbare Gewebe, das eine Gesellschaft zusammenhält. Viel mehr als nur die Verteilung von Wohlstand und die Versorgung im Altar.

    Der Mangel an bedeutungsvollen Beziehungen über die Generationen hinweg, und die vielen Brüche in familiären Beziehungen und Verwandschaft, sind ein deutliches Zeichen für die Verarmung und den Niedergang unserer Kultur.