Im Gespräch mit ...

Prof. emer. Jürgen Ziemer

Jürgen Ziemer wurde1937 in Gollnow/Goleniów (Pommern) geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Rinteln, Hattendorf, Angermünde, Greifswald, Rostock.Von 1955–1960 studierte er Evangelische Theologie in Greifswald und Halle und war von 1962–1963 Wissenschaftlicher Assistent an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Nach dem Vikariat und der Ordination war Jürgen Ziemer zwei Jahre als Pfarrer in der Erlöserkirchgemeinde in Leipzig tätig. 1967 wurde er in Halle bei Konrad Onasch (Konfessionskunde der Orthodoxie) promoviert. Von 1967–1972 hatte er die Studieninspektorstelle am Predigerkolleg St. Pauli in Leipzig inne, war von 1972–1976 Studentenpfarrer in der ESG Dresden und danach Studiendirektor am Predigerkolleg St. Pauli in Leipzig. 1982 schloss er eine pastoralpsychologischen Zusatzausbildung als Supervisor (DGfP/KSA) ab und war von 1980–1992 als Dozent für Praktische Theologie am Theologischen Seminar Leipzig (seit 1990 Kirchliche Hochschule) tätig.

1991 habilitierte sich Jürgen Ziemer für das Fach Praktische Theologie in Halle bei Eberhard Winkler

und wirkte dann von 1992–2003 als Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig



Sehr geehrter Prof. Ziemer, wie schätzen sie die gegenwärtige Situation der sächsischen Landeskirche ein? Was nehmen Sie wahr?
Ich erlebe die sächsische Landeskirche seit mehr als 50 Jahren aus unterschiedlichen beruflichen und persönlichen Perspektiven. Es ist meine Kirche, sage ich ganz bewusst. Das trübt jedoch den kritischen Blick nicht. Sachsen hatte schon immer eine lutherische Kirche, in der die Pflege der Mitte und die Sorge um die Einheit tonangebend waren. Das hat manches für sich, fördert aber Vorsichtsverhalten und Kompromissstrukturen. Begünstigt wird dadurch auch eine besondere Rücksicht auf konservativere Strömungen, sei es mit lutherisch-konfessionellen, sei es mit im weiten Sinn pietistischen Profilen. Manches hängt gewiss auch mit der sächsischen Mentalität zusammen, die leicht zur richtungspolitischen Steuerung benutzt werden kann.
Modernere, theologisch, sozialethisch und gesellschaftspolitisch kritische oder innovative Profilbildungen haben es hier schwer, wahrgenommen und beachtet zu werden. Offizielle kirchliche Meinungsäußerungen zu brennenden Fragen der Zeit (Integration von Ausländern, Flüchtlingsfrage, soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft, Dialog mit dem Islam, homosexuelle Partnerschaften) wirken oft ziemlich abgestimmt und wenig druckvoll – wobei ich nicht unterschlagen möchte, dass es gelegentlich in der Vergangenheit durch kirchliche Führungspersonen (z.B. Bischof i.R. Bohl) auch klare Positionierungen gegeben hat, aber in der Tendenz ist es schon so.

In der sächsischen Landeskirche haben wir generell ein Problem mit dem innerkirchlichen Pluralismus. Wir können und müssen miteinander Kirche sein, auch wenn wir in grundlegenden Fragen verschiedener Meinung sind. Keine Gemeinde kann beispielsweise gezwungen werden, ein gleichgeschlechtliches Paar ins Pfarrhaus einziehen zu lassen, aber sie muss es ertragen, dass eine andere Gemeinde genau dies zulässt. Ohne Offenheit und Toleranz wird es schwer sein, in der modernen Gesellschaft als Kirche präsent und relevant zu sein.

In ekklesiologischer Hinsicht erkenne ich keine wirklich überzeugende Zukunftskonzeption für die Landeskirche. Ich bin z.B.  skeptisch, ob weitere zentral gesteuerte Strukturveränderungen (etwa eine Vergrößerung der Parochien) unsere Kirche zukunftsfähig machen.  Für mich wären regional oder lokal verantwortete Konzeptualisierungen naheliegender. Ich weiß freilich auch, dass es nicht einfach ist, in eine offene Zukunft vorauszudenken.

Welche Motive vermuten Sie hinter einer eher restaurativ-konservativen Haltung?
Ich gehe erst einmal davon aus, dass eine solche Haltung einem bestimmten Wahrheitsverständnis und der Treue zu Schrift und zu überlieferten Grundlagen des Glaubens entspringt. Eine solche Haltung darf man in unserer Kirche natürlich einnehmen.
Sofern diese Haltung mit einer fundamentalistischen Überzeugung verbunden ist, widerspricht sie den Grundeinstellungen heutiger evangelischer Theologie als maßgebender Referenzwissenschaft für die Kirche.  Man kann fundamentalistisch gesinnt sein, für die Arbeit im kirchlichen Auftrag ist das aber ein echtes Problem, vor allem im gemeinde- und religionspädagogischen Bereich.

Aber jetzt direkt zur gestellten Frage:
Allgemeiner gesehen beruht die zunehmende „restaurativ-konservative Haltung“ gewiss auf einem Unbehagen gegenüber zu viel Neuerungen, Veränderungsforderungen, Reformverschlägen usw. Das hohe Beschleunigungstempo in unserer Gesellschaft geht auch auf die kirchlichen Institutionen über und erzeugt massive Verunsicherungen und fördert Schließungsreaktionen. Das ist menschlich verständlich. Alle Veränderungsimpulse brauchen deshalb immer auch begleitende Maßnahmen, mit denen die handelnden Personen und Institutionen in Blick genommen und Überforderungen vermieden werden. 

Nicht ausschließen möchte ich allerdings auch, dass es in unserer Landeskirche Kräfte gibt, die aus strategischen Gründen  an einer restaurativen Kirchenpolitik interessiert sind. Und da werden dann gern bestimmte Reizthemen (z.B. Homosexualität) immer wieder in die Debatte geworfen.
Manchmal sind auch in der Kirche Machtspiele im Gange, das ist normal. Wie wir an der letzten Bischofswahl gesehen haben! Man muss sich darüber nicht moralisch erregen, man muss es aber klar sehen.

 

Welche uneingelösten Gehalte aus dem theologischen Nachdenken Ihrer Generation sehen Sie (noch)?
Wesentliche theologische Impulsgeber waren für mich (und Teile meiner Generation) Bonhoeffers Gedanken über ein „religionsloses“ Christentum und eine „Kirche für andere“, was von Ernst Lange dann als „Kirche für die Welt“ und „Gottesdienst im Alltag der Welt“ interpretiert wurde. Man muss nicht darüber klagen, dass das heute kaum eingelöst werden kann. Es waren wirklich Impulse, die weit über ihre Zeit hinaus weisen und heute nicht vergessen sind. Sie fordern uns heraus, immer wieder an die Grenzen zu gehen und diese zu überschreiten. Das geschieht heute – z.B. im Engagement für Flüchtlinge, ebenso wie in vielen andern offenen Formen von Gemeindearbeit und Kirchenengagement. Aber es gibt auch die Gegentendenzen zum Schließen der Räume: in liturgische oder spirituelle Sonderzonen oder alternativkulturelle religiöse Kuschelräume.

Ein wichtiger anderer Punkt: Ich gehöre zu der theologischen Generation, die mit „Bultmann“ aufgewachsen ist. Ein kritisches, hermeneutisch fundiertes Schriftverständnis ist für mich grundlegend, auch für die Gemeindearbeit. Aber davon ist bis heute nicht viel bei den evangelischen Christen unserer Kirche angekommen. Das will ich niemandem anlasten, schon gar nicht der gegenwärtigen Pfarrergeneration, eher schon meiner eigenen. Wir waren zu zaghaft, und bis heute regiert die Furcht, die Gemeinden könnten durch historisch-kritische Textauslegung verunsichert werden. Die daraus entstandene Vorsicht hat mehr Bibelentfremdung verursacht, als kritische Textbetrachtung es je vermocht hätte.

Als dritten Punkt nenne ich noch etwa, wo sich unsere früheren Vorstellungen von zukünftiger Gemeindearbeit nicht erfüllt haben. Das sehe ich heute eher positiv. Wir haben der lokalen Gemeinde (die nicht identisch sein muss mit der Parochie) seit den 60ern nur wenig Chancen eingeräumt, und wir hatten auch geglaubt, dass statt des Gottesdienstes eher Hauskreise und Dienstgruppen den Kern der kirchlichen Arbeit ausmachen würde. Beides hat sich nicht so erfüllt. Wir sehen heute, ein wie großer Wert erfahrbare „Gemeinschaft“ in einer Gemeinde am Ort hat und wie zentral für sie der regelmäßige Gottesdienst ist. Beide Aspekte sind gleich wichtig.

Was wünschen Sie sich als Seelsorger für die sächsische Landeskirche und die Menschen, die sich ihr zugehörig fühlen?
Das ist eine recht komplexe Frage. Ich setze mal bei dem Gemeindethema ein: Gemeinde, in der „Gemeinschaft“ erfahren wird, ist in sich seelsorglich strukturiert. Seelsorge gehört wesentlich zur Gemeinde. Das meine ich nicht in dem Sinne, dass ich jetzt zusätzliche Seelsorgeaktivitäten fordern würde von Mitarbeitern, die ohnehin meist überlastet sind. Vielmehr geht es mir um eine Form von Gemeindearbeit, in der sich ein seelsorgliches „Klima“ ausbreitet: Wahrnehmung der Einzelnen, Achthaben aufeinander, eine Kultur der Gastfreundschaft – so dass die Einzelnen sich willkommen fühlen und vielleicht auch mal gefragt werden, wie es geht. Das ergibt sich nicht von alleine. Es zeigt sich, wie der Gottesdienst gestaltet wird, wie der Raum aussieht, wie man zum Kirchenkaffee zusammenkommt und bereit ist für Andere. Es zeigt sich an der Bereitschaft zum Gespräch – auch wenn es sich spontan ergibt.

Ein wichtiger Aspekt ist für in diesem Zusammenhang die Ausbildung zur Seelsorge (im Haupt- wie im Ehrenamt) und die Ermöglichung regelmäßiger Supervision für alle Mitarbeiter im „Verkündigungsdienst“. Die Komplexität der beruflichen Arbeit in der Kirche, die häufig sehr hohe zeitliche Belastung, aber auch die nicht seltenen Erfahrungen von Erfolglosigkeit und Vergeblichkeit verlangen nach sensiblen Verarbeitungsmöglichkeiten und kritischer Reflexion. Auch das gehört zur „seelsorglichen Kultur“ in einer zeitgemäßen evangelischen Kirche.
Ob sich eine solche „seelsorgerliche Kultur“ auch für das Miteinander in der Landeskirche herausbildet, ist für mich eine wichtige Frage. „Seelsorglich“ bedeutet dabei nicht: betulich, konfliktvermeidend, zudeckend miteinander zu sprechen. Vielmehr geht es um ein Klima der Offenheit und des Hörens aufeinander. Und manchmal ist auch Konfrontation notwendig, sonst bleibt alles im Nebel. Seelsorge ist Kommunikation, und die brauchen wir in der Kirche. Wenn solche Kommunikation nicht möglich ist, ist das System Kirche „gestört“, um  es mal psychologisch zu sagen. Da hilft es, wenn man Menschen mit spezifischer Qualifikation zu Rate ziehen kann. Es gibt sie in unserer Landeskirche, aber auch in anderen (was manchmal etwas ratsamer ist!). Seelsorge ist Kommunikation.  Das wissen wir alle. Dazu gehört, mit Unterschieden und Differenzen umzugehen lernen. Sie werden durch seelsorgliche Kommunikation konkreter, damit nicht immer einfacher, aber verstehbarer.  Dass es nicht gelingen wird, alles „seelsorglich“ zu klären, sei nicht verschwiegen. Es sollte alles versucht werden, den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. Das „mutuum colloquium“ gehört nach Luther zu den essentials evangelischen Christentums. Aber manchmal führen Gespräche wirklich nicht weiter, dann muss man lernen, den Dissens auszuhalten. Das ist keine leichte Übung, aber manchmal besser, als dauernd wackelige Brücken zu bauen.

Die Fragen stellten Christiane Dohrn und Frank Martin